Blog zum NW-Bildungstag

Franco Supino: Mehr Gerechtigkeit (endlich)!

20. Februar 2023

(Anmerkung der Redaktion: 2010 hat Franco Supino einen Artikel unter dem Titel «Meine Modellschule» in der Wochenzeitung «Die Zeit» veröffentlicht. Hier kommentiert er diesen Artikel aus heutiger Sicht.)

Wenn ich einen eigenen Text lese, lese ich noch mehr als bei fremden Texten zwischen den Zeilen. Was für ein ambitionierter Schreiberling da vor zwölf Jahren unter meinem Namen auftrat. Seine Charakteristik ist eher Tempo als argumentative Tiefe. – Was lasse ich nach zwölf Jahren noch gelten? Wo treibt es mir die Schamesröte ins Gesicht?

Die Schulstrukturen sind zweifellos immer noch gleich starr. Die Klasse beispielsweise ist für die Schule, was die Familie für den Staat ist – die Keimzelle, der allererste Anfang, aus dem sich das grössere Ganze entwickelt: die Bildung. An der Klasse richten sich die Stufen, die Lehrbeauftragten, die Lehrpläne aus. An ihrer Grösse und ihrer Zusammensetzung entfacht sich die politische Debatte. Die Klasse hat einen fixe Stunden- und Ferienplan. Jedes Schulhaus unterscheidet zwischen Klassen- und anderen Räumen, auch solche, die 2022 geplant werden, so dass man davon ausgehen kann, dass die Schule noch weit über 2022 sich an der Klasse – und nicht am Individuum – orientieren wird.

Die Kinder stehen also nach wie vor nicht im Zentrum der Diskussion – ausser, dass sie angeblich immer schwieriger werden. Genauso wie die Eltern – man kann hier die Frage nach dem Huhn und dem Ei stellen. Die Lehrpersonen respektive der Lehrer:innen-Mangel dominieren. Ich schlage vor: Warum diesen Umstand nicht als Chance sehen? Weniger Lehrer:innen heisst ja nicht per se weniger guten Unterricht. Ich hoffe, dass die Schule 2030 mit weniger Personal (und entsprechend einer gekürzten Stundentafel) auskommt, ich würde mir einiges davon versprechen.

Die Kinder bestimmen so wenig wie vor zwölf Jahren, was für sie lernförderlich ist, wie ihr Schulalltag aussehen soll, welche Lernformen sie ausprobieren möchten und wann sie mit wem zusammen sein wollen. Die Hierarchien sind insgesamt stabil geblieben. Unten ist die Schülerin, oben der Lehrer (über ihm darf nichts sein, sonst wird er bockig, weshalb die sog. ‘Geleiteten Schulen’ auch nie richtig in die Gänge kommen werden – dieses Modell muss dringend revidiert werden). Auch die Hierarchien des Lehrpersonals sind fest zementiert: noch immer reden wir in der Schweiz von Kindergärtnerinnen, obwohl es diesen Beruf gar nicht mehr gibt, der Kindergarten Teil des Zyklus 1 geworden ist und es keinen Übergang zwischen Kindergarten und Primarschule mehr gibt. Selbstverständlich verdient die Professorin an der Universität immer noch viel mehr als der Unterstufenlehrer, obwohl dies nicht zu rechtfertigen ist.

Die Schulen sind noch immer keine offenen Räume für die Gemeinschaft, keine Begegnungszentren. Schulen sind im Minimum an 14 Wochen pro Jahr und an zwei Tagen pro Woche geschlossen. Geheizt und geputzt sind sie immer. – Was für eine Verschwendung!

Was mir an meinen Vorschlägen von 2010 nicht mehr gefällt ist, ist das Vertrauen in technische Lösungen: innovative Lernmaterialien und die Digitalisierung werden zu Allheilmittel der Bildung stilisiert. Lehrer:innen werden von mir als Coach bezeichnet. Was soll das heissen? Lehrer:innen als Lernbegleiter:innen ohne Pflicht zur Konfrontation?

Die Pandemie hat mich das Gegenteil gelehrt: die Begegnung ist alles. Präsenz bedeutet zunächst physische und geistige Bereitschaft, als Lehrperson die Kinder wahrzunehmen – man kann Wissen nicht an Maschinen delegieren. Dort ist das Wissen vielleicht gut abgelegt, aber nicht verfügbar. Das tätige Sich-Auseinandersetzen mit dem Stoff in der Begegnung – das wird der Kern des Lehrberufs bleiben.

Was ich in diesem Artikel vermisse und wofür ich mich schäme: Nirgends poche ich auf Chancengleichheit. Die Schule hält wie eh und je nicht, was sie verspricht, nämlich die Kinder aufgrund ihres Talents und ihrer Lernbereitschaft, also ihre Kompetenzen, zu selektionieren und zu befördern. Die Schule reproduziert den sozialen Status der Eltern. Unsere Schule ist wie eine amerikanische Sportprofiliga eine geschlossene Gesellschaft. Absteigen ist nicht vorgesehen, die Sieger werden unter sich ausgemacht, und wer draussen ist, bleibt draussen.

Es muss dringend Gegensteuer gegeben werden, die Bildungschancen müssen für alle Kinder gleich (oder wenigstens ‘gleicher’) werden. Der erste Schritt wäre die Abschaffung der Selektion während der Schulpflicht. Die Bildungsforschung belegt: In den allermeisten Kantonen wird zu früh und falsch selektioniert. Kinder dürfen nicht bereits in der 5. Klasse, also mit elf Jahren, segregiert werden: da nämlich entscheidet es sich, in welche Klasse man in der Sekundarschule kommt. Die spätere Durchlässigkeit der Stufen ist eine Illusion, auch die der Bildungswege. Selten können Jugendliche und Erwachsene sich nachträglich in qualifiziertere (und damit besser entlöhnte) Berufe hocharbeiten. Meistens reproduzieren sie das, was die Stufe, in die sie so jung gesteckt werden, von ihnen verlangt. Vorläufig scheint sich die Schweiz diese Klassengesellschaft leisten zu können – aber sie höhlt den Bildungsgedanken grundsätzlich aus, wenn nicht die eigene Lernbereitschaft und die individuellen Fähigkeiten den Bildungserfolg steuern. Es ist dies vor allem auch für die Lehrer:innen Quelle zehrender Frustration.

Franco Supino

(Hier finden Sie den Artikel «Meine Modellschule» vom 25. November 2010 )

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