Roger Stiel: Schule & Berufswelt 2040 aus Sicht eines Schulleiters

Gras wächst nicht schneller, wenn wir dran zupfen
Mir begegnet das Thema „Schule und Berufswelt“ auf zwei Tätigkeitsfeldern: Zum einen bei meiner Haupttätigkeit als Schulleiter auf der Sekundarstufe I, zum anderen bei meiner Nebentätigkeit als Berater bei der Allianz Chance+, die sich für bessere Chancengerechtigkeit in der Schweiz einsetzt (https://chanceplus.ch/).
Als Schulleiter habe ich viel Freude daran, dass die Lehrpersonen grosses Engagement und viel Gespür bei der Aufgabe zeigen, die Jugendlichen auf dem Weg in den nächsten Lebensabschnitt zu unterstützen. Unser Konzept für die berufliche Orientierung sieht Schnupperwochen und Praktika vor, hinzu kommen Einladungen an Lehrlinge oder erfahrene Berufstätige, die in der Schule aus ihrem Alltag berichten, und abgerundet wird das Programm durch die kantonale Berufsschau. Die Zusammenarbeit mit der kantonalen Berufsberatung und mit der Wirtschaft ist gut eingespielt, was sich darin zeigt, dass es auch bei Jugendlichen mit schulischen Problemen oftmals gelingt, einen guten Weg in die Berufswelt zu finden.
Bei den Jugendlichen finde ich es grossartig, dass die Motivation insgesamt hoch oder sogar sehr hoch ist, den Weg auf der Sekundarstufe II erfolgreich zu meistern, ob sie nun die Berufsbildung wählen oder eine allgemeinbildende weiterführende Schule. Wir haben da keinen Verdruss, die Schülerinnen und Schüler geben sich alle Mühe bei der Bewältigung von Hindernissen, die sich in den Weg stellen, sie machen wirklich das Beste aus ihren Chancen.
Diese Chancen sind in der Gesellschaft aber leider ungleich verteilt, und Kinder aus benachteiligten Milieus haben grosse Nachteile zu überwinden, um in der Schweiz zum Zuge zu kommen. Diese Problematik hat ihren Ursprung nicht in der Schule, aber es ist sehr ärgerlich, dass es uns in den Schulen zu wenig gelingt, die Schere zwischen Kindern aus schulaffinen und schulfernen Milieus zu schliessen. Bereits vor Eintritt in die Schule ist es wichtig, in dieser Hinsicht mehr für sprachliche Frühförderung und Elternarbeit zu tun, und nach dem Eintritt ist es wichtig, dass Schulen eigene Förderprogramme entwickeln und umsetzen können. Hierin besteht eine wichtige Aufgabe der Allianz Chance+, die dazu beiträgt, vorhandene gute Praxis und vorhandene wissenschaftliche Erkenntnisse breitenwirksam bekannt und anwendbar zu machen.
Sorgen bereitet mir, dass bildungspolitisch ein Trend zu beobachten ist, der darauf hinausläuft, wachsende Leistungsheterogenität mit mehr Separation zu beantworten. Aus meiner Erfahrung ist das der falsche Weg, und ich spreche hier wohlgemerkt aus dem Blickwinkel einer Schule, die von ihrer sozialen Umgebung her nicht auf Rosen gebettet ist. Wir tun gut daran, möglichst alle Kinder in die Volksschule einzubinden – auch deshalb, weil das für den Zusammenhalt in der Gesellschaft förderlich ist. Ebenso tun wir gut daran, wenn wir als Erwachsene einen kritischen Blick auf unser eigenes Leistungsdenken werfen: Das Gras wächst nicht schneller, wenn wir an den Halmen zupfen und rupfen. Hohe Ansprüche können wertvoll und wichtig sein, zu hohe Ansprüche sind Gift für die Kinder und auch für die Schulen.
Als Schulleiter bin ich dafür, dass wir im Alltag auch nach unkonventionellen Lösungen suchen und uns nicht darin verlieren, vor jedem Schritt nach einer rechtlichen Vorschrift zu suchen. Manchmal muss man das Neue einfach probieren und sieht dann, was geht. Manchmal stellen sich Schritte als Irrweg heraus, dann ist es wichtig, Fehler zuzugeben und sich zu korrigieren. Deshalb ist es mir auch sehr sympathisch, bei Antworten auf dem Mangel an Lehrpersonen unkonventionelle Wege zu gehen, und ich bin froh, dass wir bei uns an der Schule den Quereinstieg in den Lehrberuf aktiv unterstützen. Nicht nur, dass wir Quereinsteigende von der PH aufnehmen, bei uns besteht auch die Möglichkeit für Berufstätige, kleinere oder grössere Mandate als Assistenz wahrzunehmen und so einen Eindruck dafür zu gewinnen, ob die eigene Zukunft vielleicht im Lehrberuf liegt. Auch das ist eine Verknüpfung von Schule und Berufswelt, und manches, was wir heute beginnen, wird 2040 Teil des Alltags sein.
Roger Stiel ist Schulleiter im Aargau und Berater bei Allianz Chance+ (https://chanceplus.ch/interview-roger-stiel/)